Stacheldraht

Unter dem Stichwort Geduld bin ich auf ein Wort von Martin Luther gestoßen; und drüber gestolpert.
Das geht mir bei Luther oft so.

„Wir sollen lernen, auf das Wort und Gottes Willen zu sehen, alsdann werden wir mit geduldigem Herzen alles erleiden, wie schwer es auch immer sein mag“. 

Das klingt zunächst erdrückend und aussichtslos. Vielleicht liegt aber der Schlüssel in dem Aspekt der Geduld, der uns ermöglicht, Ruhe und kühlen Kopf zu bewahren? Geduldigen Herzens zu sein, bedeutet ja nicht zwangsläufig, alles einfach nur hinnehmen und erleiden müssen.

Vor einiger Zeit habe ich dieses Stück Holz fotografiert, das in einem Stacheldraht hängt. Offenbar hat jemand jenseits des Zaunes Gestrüpp und kleinere Bäume entfernt. Der Teil eines Astes blieb dabei im Draht zurück.
Zunächst dachte ich an die Brutalität, mit der sich der Draht in den Ast gefressen haben muss. An die tiefe Kerbe, die er beim Eindringen hinterlassen hat.
Ich stellte mir dieses einschneidende Ereignis als äußerst schmerzhaft und zutiefst verletzend vor.
Beim genaueren Betrachten ist mir allerdings aufgefallen, dass nicht der Draht sich eingeschnitten hatte, sondern dass der Ast den Draht ganz langsam und geduldig eingeschlossen haben muss.
Zunächst wird es wohl so gewesen sein, dass die Rinde sich am Draht aufgescheuert hat. Sicher hat der Ast geharzt, hat der Baum etwas von seinem Lebenssaft lassen müssen.
Er hat jedoch nicht das Leben lassen müssen und ist weiter gewachsen.
Allerdings war auch der Draht beharrlich und ist nicht gewichen; das konnte er nicht.
Er blieb unabwendbar und in unverminderter Härte einfach da, wo er war.
Langsam aber hat sich der weiter wachsende Baum also mit dem Stacheldraht abfinden müssen. Er ist in seinem ungebrochenen Lebenswillen größer und dicker geworden. Und der Ast hat sich mit der Zeit um den Draht herum weiter entwickelt. Er hat den Draht eingeschlossen und hat ihn in seine Entwicklung integriert.
Und das wirklich Erstaunliche ist, dass es dem Ast gelungen ist, dem Draht damit seine Gefährlichkeit zu nehmen. Schaut man genau hin, so fällt auf, dass der Ast den Draht zwischen zwei dieser Stachelschlingen umschlossen hat. Damit hat er sich gut vor schlimmeren Schäden geschützt.
Natürlich bleibt der Stacheldraht nach wie vor derselbe.
Er verliert nichts von seiner Gefährlichkeit, ist nach wie vor verletzend.
Aber nun ist es der Baum selbst, der sich vor weiteren Verletzungen schützt.
Freilich lässt sich das Wachstum eines Baumes nicht ohne weiteres auf unser Menschsein übertragen. Das Verarbeiten von einschneidenden Erlebnissen geht auch bei aller Geduld nicht von selbst.
Andauernde Verletzungen können wir jedoch vermeiden, wenn wir uns mit den Stacheln des Schicksals, den Stacheln der Vergangenheit und denen der Zukunft bewusst arrangieren, wenn wir uns auf sie einstellen und ihnen einen festen Platz geben können.
Wenn wir eine starre Faust um den Draht ballen, fließt sofort Blut. Wenn wir den Draht aber bewegen, ihn in eine andere Stellung bringen, im übertragenen Sinn also das bearbeiten, was hinter uns liegt oder was Befürchtungen auslöst, dann kann es gelingen, die Hand ganz fest um den Stacheldraht zu schließen, ohne verletzt zu werden.
Dann können wir sogar am Draht ziehen und drehen und stellen fest, dass er an dem Platz bleibt, den wir ihm zugewiesen haben, und er uns nichts mehr anhaben kann. Wem das gelingt, fällt natürlich auf, dass die Faust, die den Stachel in sich birgt, keine „normale“ Faust ist. Die Fingerstellung muss sich verändern, muss sich auf die nach wie vor spitzen und gefährlichen Stachel einstellen. Die Faust bleibt aber trotzdem als das Symbol von Kraft und Entschlossenheit zu erkennen.
Klar ist: was hinter uns liegt und auf uns zukommt, sind keine leblosen Stacheldrahtstücke. Verletzungen, Enttäuschungen und Befürchtungen lassen sich nicht so leicht handhaben, wie sich das eben gerade angefühlt hat. Und es gelingt auch nicht, sich der Hoffnung hinzugeben, dass irgendwann einmal Gras drüber wächst und alles von selbst wieder gut wird. Vergangenes und künftige Herausforderungen müssen wir bearbeiten und ihnen einen festen Platz im Leben zuweisen, damit wir sie gestalten können.
Es muss uns gelingen, die Fraktionierungen, die uns die unterschiedlichen geschichtlichen Abschnitte hinterlassen haben, zu überwinden. Und wir können zukünftig Polarisierungen vermeiden, wenn wir willens und in der Lage sind, sachlich miteinander umzugehen und, da wo notwendig, miteinander fair zu streiten.
Uns hilft dabei der Blick auf das Kreuz Jesu, das uns sagt, dass es jenseits der noch tiefen Verletzungen, Vergebung und Auferstehung gibt.
Vielleicht ist somit Luthers Satz anders herum betrachtet ein Satz der Hoffnung: Wenn wir schon Unausweichliches ertragen müssen, ist Gott da und steht uns als einander zugewandte Menschen zur Seite.
Und er befähigt uns zu der notwendigen Geduld mit uns selbst, die uns erkennen lässt, dass es nichts nutzt, einfach nur eine starre Faust gegen andere – und uns selbst – zu ballen. Denn damit verletzen wir – Andere und uns.

Hans-Gunther Seifert