Ich bin auf Sabbattagen im Kloster Frenswegen, ganz im Westen unserer Republik, unmittelbar an der holländischen Grenze.
Sabbattage, das heißt: drei Tage raus aus der Arbeit, und unter fachkundiger Anleitung in sich selbst hinein hören.
Und das für mich noch immer mit den Testhörgeräten in meinen Ohren.
Wir gehen in einer Gruppe einen Pilgerweg.
Die Gruppe weiß, dass ich hörgeschädigt bin, und eigentlich weiß es auch der Anleiter.
Unsere letzte Station auf diesem Pilgerweg: der Brunnen vor dem Kloster.

„Was speist euch?“ fragt der Anleiter.
„Was ist eure Quelle des Lebens?
Ist es Gott, wie die Bibel sagt:
‚Bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht‘?!“
Der Anleiter lädt uns ein, am Brunnen eine Achtsamkeitsübung zu machen.
Jeweils zwei Minuten lang sollen wir uns auf je einen unserer fünf Sinne konzentrieren.
Der Anleiter sagt: „Fangen wir mit dem Hören an, das ist am einfachsten“.
Ich stutze, und dann muss ich grinsen.
‚Das ist am einfachsten!?‘
Für mich nicht!
Ich blicke in die Gruppe.
Auch da grinsen einige, und dann lacht die ganze Gruppe.
Weil alle dasselbe denken wie ich.
Nun bemerkt auch der Anleiter seinen Fehler.
„Entschuldigung!“ sagt er.
„Wir können auch mit was anderem beginnen.“
Ich halte ihm lachend den erhoben Daumen entgegen: ‚Ist schon okay!‘
Dann höre ich.
Mit meinen Testhörgeräten.
Ich höre: Das Brummen von Autos im Hintergrund.
Das Zwitschern der vielen Vögel in den mächtigen Buchen und Linden rund ums Kloster.
Tschilp, Tschilp, tönt es von oben und etwas tiefer Tschülp, Tschülp.
Tirili höre ich, so hoch, dass es sich fast wie Sirren anhört.
Rucke di gu, Rucke di gu von der einzigen Vogelart, die ich sicher zuordnen kann: von Tauben.
Und ob ihr es mir glaubt oder nicht:
ich höre sogar das Brummen einer Hummel, die vor mir im Gras ein Gänseblümchen anfliegt.
Dann geht es weiter mit den anderen Sinnen:
Fühlen, und ich fühle die warmen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht.
Sehen, und ich sehe die dicken Rhododendronbüsche mit ihren vollen, lilafarbenen Blüten und den Klostergraben, dessen Wasser mit hellgrüner Entengrütze bedeckt ist.
Schmecken, und ich schmecke dem köstlichen Zwiebelkuchen nach, den ich gestern hier zu Abend
gegessen habe.
Riechen, und ich rieche an meinem Halstuch, das nach meinem Parfum riecht.
Und sogleich fallen mir meine Kinder ein, für die ich als Mutter so eng mit diesem Parfum verbunden bin, dass sie mich riechen, wenn sie dieses Parfum riechen.
Ich kehre noch einmal zum Hören zurück:
ich habe wirklich viel gehört mit meinen Testhörgeräten.
Ich habe aber auch intensiv in mich hineingehört:
beim Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken und Riechen.
Ich habe in mich hineingehört, und mein Inneres hat mir geantwortet:
„Du kennst so viele Quellen des Lebens!
Neben dem Hören und über das Hören hinaus!
Gehe zu ihnen wie zu einem Brunnen.
Schöpfe aus ihnen.
Wenn dein Gehör dich im Stich lässt.
Aber auch, wenn du dich auf deine Gehör verlassen kannst.
Und wenn du darüber hinaus noch das Bedürfnis verspürst, bei Gott deine Quelle des Lebens zu finden, dann gehe einfach auch zu diesem Brunnen und schöpfe aus ihm.
Das geht nämlich sogar ohne Riechen, Schmecken, Sehen, Fühlen … und Hören …
weil Gott über allen unseren Sinnen steht!“

Beate Gärtner, Schwerhörigenseelsorgerin