Da gibt es ein Gedicht. Ich trage es immer bei mir in meiner Handtasche.
Der Dichter verfasste es in einem U-Bahn-Gang in New York.
Auf seiner kleinen Schreibmaschine von Olympia aus Wilhelmshaven.
Nur für mich.

„Sag‘ mir, was dich bewegt“, forderte er mich in Englisch auf.
„Ich schreibe dir das passende Gedicht dazu.
Ganz umsonst“.
Ich nahm meinen Mut zusammen und auch mein Englisch.
Ich erzählte dem Dichter von meinen Ohren.
Von der noch nicht lange zurückliegenden Cochlea-Implantation.
Und davon, dass ich noch nicht ganz in der hörenden Welt angekommen sei.
Er hörte mir aufmerksam zu, und dann verfasste er auf seiner Schreibmaschine diese sagenhaften Zeilen:

Ich las die englischen Worte und war tief berührt.
Dieser Dichter hatte in mein Innerstes gesehen!
Ich nahm sein Gedicht und legte es in meine Handtasche.
Schon damals wusste ich genau:
Der Dichter wird mich damit bis heute tragen.
Habt ihr es nicht selbst gesehen?!
Wie zerknittert sein Papier an einigen Stellen ist?!
Weil ich es immer wieder aus der Handtasche nehme, um es zu lesen!
Habt ihr nicht auch gesehen, wie sorgfältig der Dichter seine Worte wählte und veränderte?!
Damit es auch wirklich „mein Gedicht“ wird!
Vier Worte strich er aus und eines fügte er handschriftlich ein.
So steht nun zwischen „your“ und „wishes“ ein Wort, das wie kein anderes zu mir passt:
„quiet“.
Aber er hat es so gesetzt, dass dieses „quiet“ für mich das beste aller Worte wurde:

Meine Liebe,
Der größte Moment war niemals der, als Du wieder hören konntest
Sondern der zu wissen,
Dass die Welt
Schon immer Deine leisen Wünsche hörte
Am Ende bekommt ihr das ganze Gedicht vom Englischen ins Deutsche übersetzt:

Meine Liebe,
Du hast deine Ohren nie gebraucht
Das Knuspern
Der Kruste
Das Bügeleisen,
Welches mit dem Umhang tanzt
Die Sonne,
Welche mit den Bäumen spielt
Die Sterne,
Welche den Seelen
Hoffnung geben
Die Zeitung verdeckt
Die geschlossenen Augen,
Welche nur im Dunklen
Heim finden
Die Iris spiegeln das leuchtende Erwachen der goldenen Schleier
Meine Liebe,
Der größte Moment war niemals der, als Du wieder hören konntest
Sondern der zu wissen,
Dass die Welt
Schon immer Deine leisen Wünsche hörte

Anmerkung:
Diese Geschichte habe ich zwar verfasst, aber sie ist nicht meine Geschichte.
Sie wurde mir freundlicherweise geliehen von einer Person, der sie 2017 in New York widerfahren ist, und die das in ihr zitierte Gedicht noch heute in ihrer Handtasche bei sich trägt.
Eine wahrhaft „engelische“ Geschichte.
Passend zu Weihnachten.

Beate Gärtner, Schwerhörigenseelsorgerin